Diese orchestralen Strategien können auch Unternehmen fruchtbare neue Perspektiven in Bereichen wie Teambildung, Kommunikation und Führung aufzeigen.
Wie Unternehmen verfügen auch Orchester über klare Hierarchien und Verantwortungsstrukturen. Jede Instrumentengruppe wird von mehreren Führungskräften und deren Stellvertreten geleitet. Diese „Abteilungsleiter“ sorgen für eine harmonische Abstimmung innerhalb ihrer Gruppe und prägen damit das sinfonische Klangbild. Zugleich sind sie für die technische Umsetzung eines Konzepts verantwortlich. Die Streicher müssen in den Proben stets die richtige Bogenstrich-Strategie austüfteln, die Bläser die ideale Atemtechnik. Diese Techniken sind nicht vom Komponisten vorgeschrieben, sondern müssen stets flexibel gestaltet werden, da sie der jeweiligen Raumakustik und den unterschiedlichen Tempi angepasst werden müssen. Gleichzeitig dirigieren orchestrale Führungskräfte ihre Abteilung mit Körperbewegungen von ihrem Instrument aus. Für das übergeordnete Grundkonzept des Orchesters ist dagegen der Dirigent zuständig. Aber ohne die anderen Führungskräfte hätte er keine Chance - zu komplex sind die vielschichtigen Führungsprozesse in einem Sinfonieorchester.
Teamgeist durch Respekt
Eine der wichtigsten Anforderungen an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist heutzutage eine ausgeprägte Teamfähigkeit. Neue Kräfte sollen sich schnell mit ihren Fähigkeiten in eine Gruppe integrieren und reibungslos einfügen. Was gut gemeint ist, führt in der Realität oft zu einem völlig falschen Teamverständnis, da die individuellen Kompetenzen durch den permanenten Anpassungsdruck meistens unter die Räder kommen. Ein Team kann Großes leisten, wenn sich die einzelnen Charaktere und ihre Fähigkeiten entfalten können. Selbstverständlich darf dies nicht im Sinne einer rein persönlichen Selbstverwirklichung beziehungsweise Profilierungssucht geschehen, sondern im Kontext einer fruchtbaren gemeinschaftlichen Entwicklung.
In einem orchestralen Team erfährt jeder Respekt für seine individuellen Stärken und Eigenarten. Pauken können naturgemäß nicht die speziellen Fähigkeiten der Geigen übernehmen und umgekehrt. Im Orchester ist ein Teamideal, das auf Gleichheit und Harmonie beruht, Illusion. Orchestrale Teamarbeit braucht das lebendige Wechselspiel aller Kräfte, nämlich unterschiedliche Persönlichkeiten auf verschiedenen Instrumenten, die zugleich bereit sind, interaktiv miteinander zu kommunizieren.
Alle Musikerinnen und Musiker sind sich vollauf bewusst, dass es Zufall ist, mit wem man beruflich zusammenarbeitet und infolgedessen kann nur der fachliche Respekt voreinander reibungslose Kommunikationsprozesse garantieren. Deshalb können beispielsweise zwei Violinisten, die privat nie etwas gemeinsam unternehmen würden, jahrelang problemlos an einem Notenpult, Körper an Köper, harmonisch zusammenspielen. Wenn sich die einzelnen Damen und Herren in ihrer Individualität akzeptiert fühlen und sie nicht ständig um Abgrenzung ringen müssen, um ihr Selbstverständnis aufrecht zu erhalten, fällt es ihnen naturgemäß viel leichter, sich mit anderen großzügig zu einigen.
Routine ist Stillstand
Wie ein Künstler lebt auch ein Orchester davon, dass es nicht in Routine verfallen darf, wenn es sein hohes Niveau halten will. Leider zeigt sich die propagierte Routine mancher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oft ausschließlich in Form einer verklärten Erinnerung an schöne vergangene Zeiten. Aber Kreativität und Innovationskraft können sich auf Dauer nur durch eine offene, lebendige Erfahrungsbereitschaft im Hier und Jetzt entfalten. Es wäre bizarr, wenn ein Dirigent vor Konzertbeginn den erwartungsvollen Zuhörern stolz mitteilen würde, dass sein Orchester tags zuvor eine erstklassige Performance geboten habe. Das Publikum will keine Kopie vom Vortag, sondern die unmittelbare Qualität. Daher sagen Dirigenten ihrem Orchester nach einem großen Erfolg oft: „Bitte lassen Sie uns das Gestern vergessen, für unser Publikum zählt nur das Heute“.
Eine gute Leistung entsteht nicht mittels eines starren Konsensmodells, sondern auf Basis lebendiger Vielfalt. Dabei ist gleichzeitig ein ausgeprägtes orchestrales Bewusstsein die unabdingbare Basis: Der Kunde ist König, er hat ein Recht auf ein stimmiges Produkt. Deshalb kann nicht jeder der 100 Musikerinnen und Musiker dem Zuhörer seine ganz persönliche Interpretation vorführen. Musiker wissen genau, sie haben nur Erfolg, wenn sie sich auf ein gemeinsames Ziel einigen, auch wenn dieses nicht immer dem Ideal eines Einzelnen entspricht.
Zur Innovationsfähigkeit gehört die Kunst, sich permanent zu wandeln und den veränderten Bedingungen anzupassen. Für Orchester eine Überlebensfrage. Da jeder Konzertsaal eine andere Akustik aufweist, müssen die Musiker auf Tourneen in kürzester Zeit oft neue technische Umsetzungsstrategien für den jeweiligen Saal entwickeln. Nur diese Bereitschaft zur ständigen Veränderung ermöglicht sinfonische Kontinuität auf hohem Niveau.
Anhand komplexer Strategien entwickelt ein Orchester aus den individuellen Kompetenzen einzelner Kräfte eine unternehmerische Einheit. Diese Strukturen und Prozesse können auch Unternehmen als Inspirationsquelle dienen, um das abteilungsübergreifende Bewusstsein zu fördern und das zwischenmenschliche Miteinander reibungsloser zu gestalten.
Der Autor: Christian Gansch begründete mit seinem Buch „Vom Solo zur Sinfonie – Was Unternehmen von Orchestern lernen können“ den Trend des Orchester-Unternehmen- Transfers im deutschsprachigen Raum. Er war einerseits als Dirigent internationaler Top-Orchester erfolgreich, andererseits arbeitete er vierzehn Jahre lang in der Musikindustrie, wo er Künstler wie Claudio Abbado, Lang Lang und Anna Netrebko sowie Orchester wie die Berliner und Wiener Philharmoniker produzierte. Am 20. Juni hält er am TAX-Circle die Key Note: „Viele Stimmen ein Ziel: Das orchestrale Wechselspiel der Kompetenzen!“
www.gansch.de